Passend zur Jahreszeit, etwas zur Erheiterung und zur Erinnerung daran, dass Literaturanalyse wichtiger ist als Differentialgleichungen:
Wenn man gezwungen ist sich mit wichtigen Dingen zu beschäftigen, kommt man öfters ins Grübeln über eher unwichtige Dinge. Sowas kann man eine künstlerische Betättigung nennen oder aber Prokastination.
Während ich nun also eigentlich Differentialgleichungen und Internetprotokolle hätte büffeln sollen, kam mir ein Gedanke, welcher mich abschweifen ließ.
Ich dachte nach über die Darstellung von Polygamie in den Medien und sinnierte darüber nach, dass promiskuitives Verhalten, wenn nicht dem übertrieben maskulinem Helden (wie etwa James Bond), sonst dem Schurken vorbehalten ist.
Das Oktober-Panorama und das sich dem Ende zuneigende Murnau-Jahr zwangen natürlich meinen Verstand in eine bestimmte Richtung. Und so kam ich über Nosferatu, der vor einigen Monaten seinen 100sten feierte, auf die literarische Vorlage: Dracula, dem ersten Poly der Horrorliteratur.
Zwar war auch der Vampir in John Polidoris Kurzgeschichte aus dem Jahr 1816 ein Verführer und 56 Jahre später schlief Le Fanus Carmilla sicherlich selten allein, doch nur Dracula verführte die Frauen nicht nacheinander, sondern lebte mit drei Vampirdamen geichzeitig in einem Schloss. Womöglich sogar in offener Beziehung, denn allen lag daran das Polykül zu erweitern. In einem gewissen Sinne natürlich, wenn man die Blutgier des transylvanischen Grafen als Metapher für die sinnliche Begierde begreift, welche für die viktorianische Epoche ein verdammenswertes Gräuel war. Im Buch müssen Lucy und Mina öfters zurückgehalten werden, damit sie nicht über die Männer herfallen – absolutely shocking, würden die Briten sagen. Und die unterschwellige Erotik des Buches war denn auch öfters ein Streitgrund mit der prüden Zensur – ein Zwist der von der Buchveröffentlichung bis zu den Hammer-Filmen reicht.
Denn ähnlich wie bei Shelleys Frankenstein, setzte eine Glorifizierung des Schurken ein. Die anrüchige Leidenschaft Draculas wurde verklärt und führte zu der mehr romantischen gegenwärtigen Interpretation eines im Original eher kalkulierend und als unbarmherzig beschriebenen Charakters.
Oft wird Dracula mit dem Frankenstein-Monster zusammen genannt, welches eher eine traurige Gestalt ist und gerade in der Verfilmung von James Whale von 1931 und dessen Fortsetzung als eine Parabel über Homosexualität gedeutet wird.
Kann der Vampir aus dem viktorianischen Zeitalter eine ähnliche Nische einnehmen?
Anstelle also voller Ekel auf ein Buch über Prozessortechnik zu Blicken, senkte ich meine Sinne auf dieses interessante Thema, welches böse Zungen trivial nennen würden.
Die von Bram Stoker ersonnene Figur ist wie bereits erwähnt kühl und berechnend, eine Verkörperung des Bösen als Gegenspieler des Guten (personifiziert durch den Katholiken Abraham Van Helsing). Vondemher besitzt er wenige charakterliche Eigenschaften, die man sich als Poly zu eigen machen sollte, abgesehen vlt. von seiner anti-religiösen Haltung. Und wenn wir den Blick auf das Beziehungsgeflecht richten, werden wir ähnlich ernüchtert werden. Die Beziehung zwischen Dracula und seinen Bräuten ist nämlich nicht die Beste. Sie haben keinen Anteil an seinem Vorhaben und unterstützen ihn auch nicht. Etwas was ich bei der Lektüre des Buches ungemein komisch fand war die Tatsache, dass der Oberschurke Dracula alle Hausarbeiten selbst verrichtet. So ist er nicht nur der Kutscher der Jonathan Harker vom Borgo-Pass abholt, sondern auch der Koch und der Hausmann, was zu einer recht peinlichen Szene führt, in welcher Harker Dracula dabei überrascht, wie er sein Bett macht … sofern ich nicht dem Mandala-Effekt unterliege.
Man könnte meinen, dass in einer Beziehung die Arbeiten aufgeteilt werden und man einander unterstützt. Die Tatsache, dass ein so traditionsbewusster männlicher Charakter von Adel wie Dracula gegen damalige Rollenvortstellungen verstößt, ist denke ich sehr bezeichnend über den Beziehungszustand des Polyküls. Vielleicht waren seine Bräute, aber auch nicht besonders darüber angetan, dass ihr Gemahl ohne sie nach London gehen wollte um dort seinen „Harem“ zu vergrößern. Aber möglicherweise hat er ihnen auch nicht trauen können, wenn es um die sichere Unterbringung von Harker geht, wie deren gemeinsame Szene belegt.
Dennoch komme ich zu dem Schluss, dass es sich entweder um eine zerrüttete oder sehr oberflächliche Poly-Beziehung handelt. Aber ich denke, zumindest eignet sich der untote Graf als Negativ-Beispiel und vielleicht findet sich auch irgendwann noch eine Interpretation des Stoffes, welches den polygamen Charakter der Figur in einen besseren Licht zeigt. Bis dahin liefert die klassische Gestalt zumindest etwas Kurzweil und Unterhaltung.
Das Gleiche hoffe ich mit dieser Analyse auch getan zu haben.
Cum granum salis!